von Andreas Fecker
Welches ist wohl die schwierigste Kata? Eine empirische Umfrage (die wahrscheinlich nie durchgeführt wird) dürfte zu unterschiedlichsten Ergebnissen führen. Und jede Antwort ist begründbar. Man wird die UNSU nennen, die GOJUSHIHO SHO, die GANKAKU, die KANKU DAI oder die TEKKI SANDAN. Die UNSU wegen ihrer unvergleichlichen Eleganz, ihrem starken Ausdruck, den schnellen Kombinationen, dem schwierigen Senpu Tobi Geri. Die GOJUSHIHO SHO wegen ihrer zahlreichen Techniken, ihres schwierigen Ablaufs, ihrer Richtungswechsel und ihrer Ähnlichkeit zur GOJUSHIHO DAI. Die GANKAKU wegen ihrer Standtechniken und Drehungen auf einem Fuß, die besonders bei ungewohnter Bodenbeschaffenheit sehr wacklig ausfallen können. Die KANKU DAI wegen ihrer Länge, ihrer Eleganz, ihrer Kraft; sie erfordert bei einem Kata-Shiai eine Bombenkondition. Die TEKKI SANDAN wegen ihrer komplizierten Armtechniken.
Reifere Karateka, die sich in allen Katas zu Hause fühlen, nennen schon mal die HEIAN SHODAN als schwierigste Kata. Warum? Während man zum Beispiel in der NIJUSHIHO am Schluss beim Mawashi Kake Uke eine persönliche Interpretation einbringen kann, ist das in der Heian Shodan nicht möglich. Jede noch so kleine Ungenauigkeit ist sofort sichtbar. Es geht in dieser Kata darum, große, unverschnörkelte Grundtechniken in großen, tiefen Zenkutsu Dachis, mit deutlich sichtbarem Kime in einem genau definierten Rhythmus zu zeigen. Keine Sprünge, keine Doppelarmtechniken, keine Fußstöße. Trotzdem muss die Kata leben, sie muss Strahlkraft haben, die Kraft muss für den Zuschauer erlebbar sein, sie muss in ihrer Ganzheit überzeugen.
Als Trainer hat man zu Beginn eines Kata Trainings bisweilen die Schwierigkeit, die Schüler zu motivieren, mit der Heian Shodan zu beginnen und diese sauber und gründlich zu machen. Es ist schließlich ein allzu menschlicher Wesenszug, das Unbekannte erlernen zu wollen, das Neue zu erforschen, die unfertigen, weil erst im letzten Training erlernten Katas zu vertiefen und zu festigen. Dieser Wunsch verstellt die Einsicht auf die elementare Wichtigkeit der Grundkata.
Weiterhin ist es allzu menschlich, seine Kraft einzuteilen, denn man will ja auch gegen Ende des Trainings noch Leistung bringen. Erfahrene Karateka sind in der Lage, eine Technik, sogar eine ganze Kata kraftvoll aussehen zu lassen, ohne sich allzu sehr zu verausgaben. Das ist eine Überlebenstechnik, die man im Laufe eines Sportlerlebens auf hunderten von Lehrgängen gelernt hat, besonders, wenn man mit hunderten Karateka gleichzeitig in der Halle stand.
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Keinosuke Enoeda hat mich einmal auf einem zweiwöchigen Sommerlehrgang in London bei einer HEIAN SHODAN erwischt, wie ich Techniken „auf stark“ machte, anstatt sie „stark“ zu machen. Ich war damals 3. Kyu. „You are using fake power “, herrschte er mich an. „Deine Kraft kommt von den Muskeln, nicht von innen!” Dann ließ er mich die Kata alleine machen, vor 500 Lehrgangsteilnehmern. Das motiviert. Ich gab mein Bestes. Doch Enoeda brach meine Kata nach dem dritten Age-Uke ab. „Noch einmal. Ich spüre Deine innere Kraft nicht.“ Beim nächsten Mal brach er gleich nach der ersten Wendung ab. „Ich will deine Kraft SPÜREN, nicht SEHEN! Nochmal.“ Die riesige Halle im Crystal Palace war mucksmäuschenstill. Die Lehrgangsteilnehmer wurden Zeuge, wie ein Kohei ‚auseinander genommen‘ und vorgeführt wurde. „Stopp“, unterbrach der Meister den nächsten Versuch, „ich SEHE Deine Kraft, aber ich SPÜRE sie nicht. Du musst EINS werden mit der Technik. Bewegung, Kime, Stand, Wille, Seele, alles muss EINS werden. Dein Spirit, dein Kampfgeist muss sprühen! Do it again.“
Ich konzentrierte mich und begann erneut. Stark, kraftvoll, motiviert, und mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch, gemischt mit Frust. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine so starke Kata gemacht. Doch nach der zweiten Wendung brach Mr. Enoeda wieder ab. „Du bist wütend. Die Kraft kommt von innen, aber du bist wütend. Deine Kraft wird von deiner Wut gesteuert. Es ist nicht gut, wenn Karateka wütend sind. Mache deinen Kopf leer, fülle dein Herz mit Güte und dann werde zur Technik. Lebe die Technik, lebe die Kraft, lebe die Seele. Do it again.“
Diesmal ließ er mich die Kata bis zum Schluss machen. Alles war anders als jemals zuvor. Der Rhythmus ließ sicher noch viel zu wünschen übrig, zu sehr war ich damit beschäftigt, mich auf NICHTS zu konzentrieren und die Technik leben zu lassen. Enoeda-Sensei ermunterte die Lehrgangsteilnehmer zu einem Applaus, wiederholte dann nochmal für alle die Philosophie der gelebten Kraft in der Kata und fuhr dann mit dem Kata Training fort. Ich bin mir nicht sicher, ob die Architekten und Statiker, die Crystal Palace gebaut hatten, einen derartigen Kraftfluss berechnet hatten, wie er sich danach in der Halle entfaltete. Später an jenem Tag nahm mich Mr. Enoeda zur Seite und sagte, „Deine Kata war vorher schon ganz gut. Aber ich brauchte jemanden, an dem ich den anderen etwas zeigen konnte.“
Vor allem aber hat er mir etwas gezeigt, an das ich mich noch heute, 50 Jahre später erinnere, als wäre es gestern gewesen. Auch im Alltag.
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